11. Tag (Montag)

Es beginnt also. Auf 6 Uhr (viel zu früh) stelle ich mir den Wecker. Ich bin aufgeregt. Es soll mein erster richtiger Tag an der neuen Schule werden. Ich bin kein Praktikant mehr. Ab heute bin ich Referendar Herr Gabelein.

Viel zu zeitig komme ich an der neuen Schule an. Einige der Unterrichtenden sind bereits im Lehrerzimmer. Und alle wirken beschäftigt, manche sogar gestresst. Auch ich will beschäftigt wirken, deswegen packe ich meinen Planer, einige Schulbücher und meine Federmappe auf meinen Platz.

“Wir hatten ja damals am ersten Tag nicht einmal einen Platz”, lässt Frau Bischof verlauten. Zwei Lehrerinnen heben den Kopf und nicken nur zustimmend. Meine Mentorin kommt betont ruhig in meine Richtung.

“Guten Morgen, Herr Gabelein. Ist natürlich nicht an jeder Schule so, aber bei uns ist es Tradition, dass man zunächst erst einmal alle Kollegen und Kolleginnen begrüßt. Das möchte ich Ihnen direkt einmal mit auf den Weg geben.”

“Achso”, entgegne ich und rufe ein verklemmtes “Guten Morgen” in die Runde, während ich nervös an meinem Hemd zupfe. Ein paar Köpfe heben sich wieder. “Guten Morgen.”

Es sollen die ungeschriebenen Gesetze im Lehrerzimmer sein, die mir in meinem Referendariat und darüber hinaus die größten Schwierigkeiten bereiten werden…

“Na, kommen Sie erst einmal mit. Heute brennt ja noch nichts an. Sie werden zunächst bei mir hospitieren. Heute nach der Mittagspause werten wir aus. Schreiben Sie sich gern alle Fragen auf.”

Wir gehen gemeinsam über den Steinboden und zwei Treppen der Schule in das Zimmer 24. Es riecht süßlich und nach Regen.

“Das ist das Klassenzimmer der 6c. Meine und nun unsere Klasse. Mal sehen, wer aus ihrer Sicht der Kopf der Klasse ist. Den müssen Sie sich zum Freund machen. Dann läuft der Rest von allein!”, sagt sie analytisch.

Wir betreten die Klasse. Ich fühle mich wie ein Zootier in der Manege.

“Wer ist das denn? Ist das der, von dem sie uns erzählt haben, Frau Bischof?”

“Setzen Sie sich erstmal in die letzte Reihe”, flüstert mir Frau Bischof ins Ohr.

Ich gehe durch die Reihen und falle über einen Ranzen. Glücklicherweise kann ich mich noch an einem Tisch abfangen. Gelächter.

“Oh Gott, ihr seid so dumm”, kommentiert ein Mädchen, welches allem Anschein nach eigentlich zwei Klassen höher eingruppiert sein könnte.

“Jetzt ist hier sofort Ruhe!”, tönt Frau Bischof in einer imposanten Lautstärke von vorn. Alle eilen an ihre Plätze.

Bereits fünf Minuten vor Stundenklingeln herrscht in der Klasse Totenstille. Sowas habe ich in all meinen Praktika nie erlebt.

Es klingelt. “Guten Morgen, Klasse 6c!”

“Guten Morgen, Frau Bischof!”, erklingt es unisono.

“Ich hoffe, ihr hattet schöne und vor allem erholsame Ferien. Wir haben in den nächsten Wochen, aber auch schon nächsten Tagen viel vor. Zunächst möchte sich aber unser Gast in der letzten Reihe vorstellen. Bitte, Herr Gabelein!”

Vierundzwanzig aufgeregte, gelangweilte, erwartungsfrohe, müde, frohe und herausfordernde Augenpaare schauen mich an.

“Guten Morgen auch von mir. Ich bin Herr Gabelein und freue mich, an der Kopernikusschule der neue Referendar zu sein. Ich bin gespannt darauf, euch kennenzulernen. Ich habe Deutsch und Ethik studiert und werde euch und natürlich auch andere Klassen in den nächsten achtzehn Monaten begleiten. Wenn es Fragen gibt, könnt ihr mir diese heute und in den nächsten Stunden gern stellen.”

“Danke, Herr Gabelein, für die Vorstellung. Gibt es denn direkt Fragen an unseren neuen Referendar?”

Eine aufgeregte Hand schießt nach oben.

“Ja, bitte Eduard.”

“Warum wollen sie denn Lehrer sein?”

Wow – direkt die Königsfrage. Natürlich hat man diese Frage schon im Studium mehrfach und immer unterschiedlich beantwortet. Und dann ist es eben doch etwas anderes, wenn man die Fragen aller Fragen direkt von einem Schüler gestellt bekommt.

“Ich glaube, dass ich Dinge ganz gut erklären kann. Außerdem mag ich Deutsch und Philosophie schon sehr lang. Reicht das erst einmal als Antwort?”

Mit einem Nicken dreht sich Eduard wieder zu Frau Bischof.

“Weitere Fragen? Nein? Gut- dann fangen wir direkt an.”

Es folgt eine Aufzählung von Organisatorischem, Neuerungen im Schulablauf und die Verkündung des Stundenplanes, der vor allem von Stöhnen und Zwischenrufen begleitet wird.

Bereits in der ersten Stunde erkenne ich, dass Frau Bischof eine Meisterin ihres Faches ist. Sie kann die Kinder so begleiten, dass sie ihr an den Lippen hängen. Sie kann Unspannendes spannend machen, sie weiß, wann Disziplinierung notwendig ist und wann die Klasse Unruhe “braucht”. Sie hat keine Struktur, sie ist die Struktur.

Die erste Doppelstunde endet und ich sitze etwas unbeholfen auf meinem Platz. Frau Bischof verlässt beschäftigt den Raum und ich packe meine Brote aus.

Eine Schülerin ergreift die Gelegenheit und fragt, woher ich komme.

“Aus Dresden.”

“Voll geil. War ich am Wochenende auch erst!”

So laufen Gespräche hier also ab. Ich gehe zur Toilette, obwohl ich gar nicht muss.

14.30 Uhr verlasse ich die Schule. Gefüllt mit vielen Eindrücken und hungrig. Ich will so schnell wie möglich nach Hause und schmeiße meine Schultasche in die Ecke, als wäre ich selbst noch ein Schüler.

Ich starte meinen PC und klicke mich durch diverse Internetseiten. Ohne Ziel.

Ich beschließe, mich für ein kurzes Nickerchen in mein Bett zu legen und schlafe ein. Viel zu spät erwache ich wieder.

Es klopft an meiner Tür. “Hey Jonas, willst du noch mit rauskommen?”

Tatsächlich hat mir Lisa diese Frage nie zuvor gestellt, weswegen ich sie verdutzt anschaue. “Lass uns doch was Essen gehen- ich lad’ dich ein.”

Natürlich begleite ich sie zum “Spanier”, wie wir dieses Lokal direkt gegenüber von unserer WG nennen, eine günstige, aber gemütliche kleine Tapasbar.

Das Essen ist nicht sonderlich überragend, aber reichhaltig.

“Wie läuft es denn in deinem Referendariat?”, will Lisa aufrichtig interessiert wissen.

“Ja, ich glaube ganz gut. Bis jetzt musste ich ja noch nicht viel tun.”

“Wie sind deine Mentorinnen so?” Sie weiß, dass man im Referendariat sogenannte Mentoren und Mentorinnen hat, weil sie unzählige Lehramtsstudierende im Freundeskreis hat. Unter anderem Trixi.

“Ganz okay. Ich habe bisher ja nur meine Deutsch-Mentorin in Aktion erlebt. Aber sie scheint zumindest fachlich gut zu sein.”

“Was meinst du damit?”, fragt Lisa.

Lisa gehört zu den Menschen, die immer eine Idee zu tief bohren, wobei man nie sicher ist, ob es sie wirklich interessiert.

“Ich weiß nicht, Lisa. Ich glaube, sie mag mich nicht und ich mag sie nicht. Und ich könnte mir vorstellen, dass es kompliziert mit uns wird. Besonders, wenn ich dann eigene Stunden halten muss.”

“Okay, ich verstehe. Lass die Sache einfach auf dich zukommen. Du wirst das gut schaffen!”, entgegnet sie.

Die Zeit mit Lisa tut gut. Unsere Gespräche sind anders, seit sie nicht mehr mit Pascal zusammen ist. Über die Ausräumaktion vor vier Tagen verlieren wir kein Wort.

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